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Den Stil aus dem Stoff kommen lassen … Die DDR im Spiegel literarisch inszenierter Naivität in Texten der entgrenzten Generation

Pages 555-577 | Published online: 21 Feb 2024
 

Abstract

Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Ästhetik des Erinnerns an die DDR, gezeigt am Beispiel der literarisch inszenierten Naivität als eines der Erzählmuster der Entgrenzten Generation (1960–1972). Die satirisch-kritischen Narrative werden als ein Paradigmenwechsel im ostdeutschen Erzählen über die Vergangenheit interpretiert. Sie zielen nicht auf eine simple Archivierung, sondern schaffen die DDR-Wirklichkeit narrativ neu. Die hier behandelten Romane leisten ihren Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung, indem sie den Leser durch das den ‘Gefühlsstau’ (Maaz) entladende Lachen dazu bringen, die eigenen Verfehlungen kritisch zu beleuchten. Der Leser wird nicht als ein zu belehrendes Objekt konstruiert, sondern als ein Akteur, der im Akt der Komplementärlektüre die halbierte Sicht des naiven Ich-Erzählers zu vervollständigen hat.

Notes

1 Ulrike Bremer, Versionen der Wende. Eine textanalytische Untersuchung erzählerischer Prosa junger deutscher Autoren zur Wiedervereinigung (Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 2002), S. 33.

2 Kerstin E. Reimann, Schreiben nach der Wende — Wende im Schreiben? Literarische Reflexionen nach 1989/90 (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008), S. 9.

3 Vgl. Thomas Brussig, Helden wie wir. Roman (Berlin: Volk & Welt, 71996).

4 Vgl. Bremer, Versionen der Wende, S. 33.

5 Michael Neubauer, ‘Gefeit vor Utopien (Interview)’, TAZ, 5. Oktober 1998, <https://www.thomasbrussig.de/vielerlei/interviews/125-gefeit-vor-utopien /> [abgerufen am 15. November 2022].

6 Vgl. Bernd Lindner, ‘“Bau auf, Freie Deutsche Jugend” — und was dann? Kriterien für ein Modell der Jugendgenerationen der DDR’, in Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, hg. von Jürgen Reulecke (München: Oldenbourg, 2003), S. 187–215 (S. 209–11).

7 Lindner, ‘“Bau auf, Freie Deutsche Jugend”’, S. 209.

8 Lindner, ‘“Bau auf, Freie Deutsche Jugend”’, S. 209.

9 Vgl. Thomas Ahbe/Rainer Gries, ‘Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der DDR’, in Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, hg. von Annegret Schüle, Thomas Ahbe und Rainer Gries (Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2006), S. 475–571 (S. 547).

10 Bernd Lindner, ‘Sozialisation und politische Kultur junger Ostdeutscher vor und nach der Wende — ein generationsspezifisches Analysenmodell’, in Ostdeutsche Jugendliche. Vom DDR-Bürger zum Bundesbürger, hg. von Uta Schlegel und Peter Förster (Opladen: Leske + Budrich, 1997), S. 23–37 (S. 33–34).

11 Lindner, ‘Sozialisation und politische Kultur’, S. 34.

12 Bremer, Versionen der Wende, S. 34.

13 Bremer, Versionen der Wende, S. 247.

14 Carsten Gansel, ‘Atlantiseffekte in der Literatur? Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR’, in Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien, hg. von Ute Dettmar und Mareile Oetken (Heidelberg: Winter, 2010), S. 17–49 (S. 21).

15 Gansel, ‘Atlantiseffekte in der Literatur?’, S. 21.

16 Vgl. Matthias Bauer, Der Schelmenroman (Stuttgart: Metzler, 1994), S. 2.

17 Vgl. Bremer, Versionen der Wende, S. 35.

18 Vgl. Ursula Reinhold, ‘Krisenerfahrung und Krisenverarbeitung der erzählenden Literatur seit 1990’, in Literarisches Krisenbewusstsein: Ein Perzeptions- und Produktionsmuster im 20. Jahrhundert, hg. von Keith Bullivant und Bernhard Spies (München: Iudicium, 2001), S. 295–313 (S. 301).

19 Brussig, Helden wie wir, S. 18.

20 Brussig, Helden wie wir, S. 283.

21 Brussig, Helden wie wir, S. 282.

22 Bremer, Versionen der Wende, S. 37–38.

23 Vgl. Bauer, Der Schelmenroman, S. 2 (Fußnote 86), vgl. dazu auch Bremer, Versionen der Wende, S. 36.

24 Thomas Jung, ‘Wende gut alles gut? Die Ostdeutsche Nachwende-Literatur im Zeichen des Pop’, in Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990, hg. von Thomas Jung (Frankfurt a. M.: Lang, 2002), S. 55–79 (S. 73).

25 Michael Neubauer, ‘Gefeit vor Utopien (Interview)’, TAZ, 5. Oktober 1998, <https://www.thomasbrussig.de/vielerlei/interviews/125-gefeit-vor-utopien> [abgerufen am 18. November 2022].

26 Neubauer, ‘Gefeit vor Utopien’.

27 Neubauer, ‘Gefeit vor Utopien’.

28 Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR (München: Knaur, 1992), S. 13.

29 Maaz, Der Gefühlsstau, S. 13.

30 Maaz, Der Gefühlsstau, S. 15.

31 Anna-Riitta Tunturi, Der pikareske Roman als Katalysator in geschichtlichen Abläufen. Erzählerische Kommunikationsmodelle, in Das Leben des Lazarillo von Thormes, bei Thomas Mann und in einigen finnischen Romane (Jyväskylä: Jyväskylä University Printing House, 2005), S. 43.

32 Bauer, Der Schelmenroman, S. 2.

33 Bauer, Der Schelmenroman, S. 2.

34 Maren Lickhardt, ‘Zu Transformationen des Pikarischen’, in Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 175 (2014), 6–23 (S. 6).

35 Vgl. dazu Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen als Avantgarde (Berlin: Aufbau, 2002), S. 11–40.

36 Thomas Jung: ‘Wende gut alles gut?’, S. 70.

37 Tanja Nause wehrt sich dagegen, Helden wie wir als Schelmenroman zu klassifizieren, weil er nicht alle von Claudio Guillén genannten Merkmale aufweist. Nause nimmt den Eigenschaftenkatalog als grundlegend an und kommt zu dem Schluss: ‘Nimmt man diese Beschreibung des pikaresken Genres ernst, so lässt sich feststellen, dass die von den Kritikern nach 1989 gern als “Schelmenroman” bezeichneten Texte eine ganze Reihe vitaler Elemente vermissen lassen.’ — Tanja Nause, Inszenierung von Naivität. Tendenzen und Ausprägungen einer Erzählstrategie der Nachwendeliteratur (Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2002), S. 26. Der These Nauses kann ich nicht zustimmen. Auch wenn die hier besprochenen Texte nicht alle in der Definition genannten Elemente aufweisen, greifen sie unmissverständlich auf diese literarische Form zurück. Deshalb habe ich auch von der produktiven Aufnahme des pikaresken Erzählmusters geschrieben. Übrigens sind sich auch andere Literaturwissenschaftler darüber einig, dass etwa Helden wie wir als ‘Schelmenroman’ klassifiziert werden darf, darunter Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe (Berlin: Aufbau, 2009), S. 501.

38 Vgl. dazu auch Roswitha Skare, ‘Panorama und Groteske. Erzähl- und Vermarktungsstrategien populärer Wendeliteratur. Zu Thomas Brussigs Helden wie wir und Erich Loests Nikolaikirche’, in Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990, hg. von Thomas Jung (Frankfurt a.M.: Lang, 2002), S. 81–102 (S. 96).

39 Vgl. Maaz, Der Gefühlsstau, S. 173.

40 Vgl. Bremer, Versionen der Wende, S. 41, Elke Brüns, Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung (München: Fink, 2006), S. 119.

41 Brüns, Nach dem Mauerfall, S. 243

42 Brüns, Nach dem Mauerfall, S. 243.

43 Vgl. Brussig, Helden wie wir, S. 281.

44 Vgl. Brussig, Helden wie wir, S. 283–85. Zum Vergleich Wolfs Auftritt am Alexanderplatz als Audioaufnahme im Deutschen Historischen Archiv <https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/4november1989/audio/Chwolf.mp3> [abgerufen am 10. November 2022] oder als Film bei Rundfunk Berlin-Brandenburg <https://www.berlin-mauer.de/videos/christa-wolf-alexanderplatz-kundgebung-berlin-ost-november-1989–832/> [abgerufen am 10. November 2022].

45 Reimann, Schreiben nach der Wende, S. 267.

46 Brussig, Helden wie wir, S. 7.

47 Brussig, Helden wie wir, S. 6.

48 Brussig, Helden wie wir, S. 7–8.

49 Bremer, Versionen der Wende, S. 40.

50 Vgl. Norkowska, Autobiographisches Schreiben nach 1989, S. 312.

51 Vgl. Jakob Hein, Mein erstes T-Shirt. Mit einem Nachwort von Wladimir Kaminer (München: Piper, 2009), S. 2.

52 Hein, Mein erstes T-Shirt, Rückseite des Covers.

53 Jakob Hein, Kaltes Wasser. Roman (Berlin: Galiani, 2016), vordere Klappe.

54 Hein, Kaltes Wasser, Rückseite des Covers.

55 Hein, Kaltes Wasser, S. 19.

56 Vgl. Brussig, Helden wie wir, S. 11.

57 Hein, Kaltes Wasser, S. 15–16.

58 Hein, Kaltes Wasser, S. 16.

59 Brussig, Helden wie wir, S. 5.

60 Brussig, Helden wie wir, S. 5.

61 Hein, Kaltes Wasser, S. 7.

62 Hein, Kaltes Wasser, S. 8.

63 Hein, Kaltes Wasser, vordere Klappe.

64 Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Klaus Weimar (Berlin: De Gruyter, 2008), S. 371.

65 Reallexikon, S. 371.

66 Die Figur eines Kindes wird hier anders als in vielen Narrativen über die Nazi-Vergangenheit nicht um der Authentizität willen eingesetzt. Der kindliche Blick vermag es zwar, — was etwa Alexandra Lloyd in ihrer Dissertation treffend nachweist — die Leser schnell mit der Thematik vertraut zu machen, sie emotional zu involvieren, ‘ because everyone has been a child — even if the specific nature and context of that childhood was different […]’. (Alexandra Lloyd, Childhood, Memory, and the Nation. Young Lives unter Nazism in Contemporary German Culture (Cambridge: Legenda, 2020), S. 171. Im Falle von Jochen Schmidt handelt es sich allerdings — ähnlich wie bei Brussig und Hein — um das humoristisch-kritische, tabubrechende Potential dieser Erzählperspektive. Anders als in den von Lloyd analysierten Texten wird hier mit der Gattungskonvention gespielt. Die Naivität eines Kindes wird inszeniert, manchmal ins Extreme getrieben, um desto schärfer die sozialen Missstände zu entblößen.

67 Jill E. Twark, ‘Negotiating the politics and aesthetics of satire. Satirical novels in the GDR and beyond’, in Rereading East Germany. The Literature and Film of the GDR, hg. von Karen Leeder (Cambridge: Cambridge University Press, 2015), S. 126–42 (S. 139).

68 Monika Spielmann, Aus den Augen des Kindes. Die Kinderperspektive in deutschsprachigen Romanen seit 1945 (Innsbruck: Universität Innsbruck Institut für Germanistik, 2002), S. 222.

69 Mechthild Barth, Mit den Augen des Kindes. Inszenierungen des kindlichen Blicks im 20. Jahrhundert (Heidelberg: Winter, 2009), S. 148.

70 Beate Müller, Debbie Pinfold, Ute Wölfel, ‘Cradle and Crucible of Vergangenheitsbewältigung. Representations of the War Child in the Occupation Period (1945–49). An Introduction’, German Life and Letters, 69:4 (2016), 417–36 (S. 423).

71 Vgl. Maaz, Der Gefühlsstau, S. 79.

72 Maaz, Der Gefühlsstau, S. 76.

73 Vgl. Jochen Schmidt, Schneckenmühle. Langsame Runde. Roman (München: Beck, 2014), S. 171.

74 Vgl. Schmidt, Schneckenmühle, S. 221–24.

75 Vgl. Schmidt, Schneckenmühle, S. 11.

76 Schmidt, Schneckenmühle, S. 33.

77 Schmidt, Schneckenmühle, S. 38.

78 Schmidt, Schneckenmühle, S. 38.

79 Schmidt, Schneckenmühle, S. 32–33.

80 Schmidt, Schneckenmühle, S. 45.

81 Schmidt, Schneckenmühle, S. 54.

82 Schmidt, Schneckenmühle, S. 106.

83 Schmidt, Schneckenmühle, S. 109.

84 Maaz, Der Gefühlsstau, S. 85.

85 Maaz, Der Gefühlsstau, S. 85.

86 Schmidt, Schneckenmühle, S. 192.

87 Schmidt, Schneckenmühle, S. 170.

88 Vgl. Schmidt, Schneckenmühle, S. 212.

89 Schmidt, Schneckenmühle, S. 171.

90 Schmidt, Schneckenmühle, S. 140.

91 Peter Härtling wählte für seinen Artikel aus dem Jahre 1967 den Titel Gegen rhetorische Ohnmacht. Kann man über Vietnam Gedichte schreiben?, auf den hier angespielt wird, weil sich meines Erachtens die Frage nach der Erzählbarkeit der DDR in die seit der Nachkriegszeit andauernde von Adorno angeregte Debatte über ‘Lyrik nach Auschwitz’, d. h. die Form der literarischen Verarbeitung des Grauens, des Massenmordes, der Folgen der Diktatur, einschreibt.

92 Vgl. Martin Sabrow, ‘Die DDR erinnern’, in Erinnerungsorte der DDR, hg. von Martin Sabrow (München: Beck, 2009), S. 11–27 (S. 15).

93 Sabrow, ‘Die DDR erinnern’, S. 15.

94 Peter Weiss, ‘Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache’, in Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, hg von Petra Kiedaisch (Stuttgart: Reclam, 2001), S. 92–98 (S. 92).

95 Marie Luise Kaschnitz, ‘Rettung durch die Phantasie’, in Kiedaisch (Hrg.), Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, S. 113–20 (S. 113).

96 Peter Weiss, ‘Gegen rhetorische Ohnmacht. Kann man über Vietnam Gedichte schreiben?’, in Kiedaisch (Hrg.), Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, S.102–06 (S. 102).

97 Weiss, ‘Gegen rhetorische Ohnmacht’, S. 102.

98 Weiss, ‘Gegen rhetorische Ohnmacht’, S. 103.

99 Karen Leeder, ‘After-images — afterlives. Remembering the GDR in the Berlin Republik’, in Leeder (Hrg.), Rereading East Germany, S. 214–37 (S. 219).

100 Wolfgang Emmerich, ‘The GDR and its literature: an overview’, in Leeder (Hrg.), Rereading East Germany, S. 8–34 (S. 29).

101 Bruno Hillebrand, Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit (Stuttgart: Metzler, 1993), S. 16.

102 Vgl. Norkowska, Autobiographisches Schreiben nach 1989, S. 351–56.

Additional information

Notes on contributors

Katarzyna Norkowska

Katarzyna Norkowska, Stipendiatin der AvH-Stiftung, lehrt Germanistik an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń. Zu ihren Forschungsfeldern zählen deutschsprachige Gegenwartsliteratur, ostdeutsche Literatur nach 1989, Generationenforschung, Autobiographik, das Schaffen Gottfried Benns. Autorin der Monographien: Ein vereinnahmter Klassiker? Das Goethe-Bild Gottfried Benns (Wrocław/Dresden: ATUT/Neisse, 2009), Autobiographisches Schreiben nach 1989. Generationelle Verortung in Texten ostdeutscher Autorinnen und Autoren (Berlin: De Gruyter, 2021).

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