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Alternative Geschichtsschreibung über Die Wendezeit im deutschen Kriminalroman

Pages 597-613 | Published online: 21 Feb 2024
 

Abstract

Seit Robert Harris’ Bestsellerroman Vaterland und dem damit verbundenen Leseerfolg erfreut sich das kontrafaktische Erzählen in der literarischen Welt einer immer größer werdenden Beliebtheit. Unter dem Deckmantel alternativer Geschichtsszenarien werden das gängige Geschichtsbild und -narrativ auf den Kopf gestellt und revidiert. Die Vergangenheit wird nicht nur als ungeschehen dargestellt, sondern auch umgeschrieben. Mithilfe solcher falsifizierenden Erzählmaßnahmen wird einerseits auf die Relativität der Geschichtsschreibung verwiesen, andererseits erheben die Autor:innen Anspruch auf (fiktionale) Authentizität und versuchen die Gegenwart durch das Prisma der falschen Historie zu analysieren.

Dieselben Prinzipien gelten auch für den deutschen (alternativen) Kriminalroman, in dem die DDR immer noch lebt und der Mauerfall 1989 nicht stattgefunden hatte. Die nicht vollzogene (oder nur teilweise vollzogene) historische Wende hat allerdings eine Wende im Bereich der Erzählästhetik zur Folge. Bevor an einigen Krimi-Beispielen wie Simon Urbans Plan D und Hans-Jürgen Ruschs Die Erben der Wende sowie Gegenwende die Art und Weise der erzählerischen Darstellung der Wende resp. Nicht-Wende präsentiert wird, wird sich der folgende Beitrag mit dem uchronischen Erzählen und den verschiedenen kriminalliterarischen Historisierungsformen beschäftigen.

Notes

1 Zu Good bye, Lenin! aus einer (film-)wissenschaftlichen Perspektive vgl. u.a. Alessa K. Paluch, Nicht-ikonische Bilder. Herrschaftskritische Perspektiven auf zeitgenössische Zeitkulturen (Bielefeld: transcript, 2021), S. 198–204; Sabine Moller, ‘Geschichtsunterricht im Fake-News-Format: “Good bye, Lenin!” (2003) und sein internationales Publikum’, in Dominik Orth, Heinz-Peter Preußer (Hg.), Mauerschau — die DDR als Film: Beiträge zur Historisierung eines verschwundenen Staates, (Berlin: De Gruyter, 2020), S. 233–53.

2 Vgl. André Menke, Die Popliteratur nach ihrem Ende. Zur Prosa Meineckes, Schamonis, Krachts in den 2000er Jahren (Bochum: Posth Verlag, 2010), S. 54. Siehe auch die Überlegungen zu Non Fiktion in Marcus Willand (Hg.), Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen: Faktualität und Fiktionalität (Hannover: Wehrhahn, 2017).

3 Thomas Wörtche, Das Mörderische neben dem Leben (Lengwil: Libelle, 2008), S. 12.

4 Jochen Vogt, ‘Vorwort’, in Jochen Vogt (Hg.), MedienMorde. Krimis international, (München: Fink, 2005), S. 7–12, hier S. 7.

5 Jochen Vogt, Schema und Variation. 13 Versuch zum Kriminalroman (Hannover: Wehrhahn, 2021), S. 27.

6 Bruno Franceschini und Carsten Würmann, ‘Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalgenre’, in Bruno Franceschini, Carsten Würmann (Hg.), Verbrechen als Passion. Neue Untersuchungen zum Kriminalgenre, (Berlin: Weidler, 2004), S. 7–10, hier S. 8.

7 Achim Saupe, Der Historiker als Detektiv — der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman (Bielefeld: transcript, 2009), S. 267–68.

8 Metin Genç, ‘Aktuelle Forschungsperspektiven’, in Susanne Düwell, Andrea Bartl, Christof Hamann, Oliver Ruf (Hg.), Handbuch Kriminalliteratur. Theorien — Geschichte — Medien, (Stuttgart Metzler, 2018), S. 49–57, hier S. 49.

9 Siehe Saupe, Der Historiker als Detektiv, S. 12.

10 Katharina Hall, ‘Historical Crime Fiction in German: the Turbulent Twentieth Century’, in Katharina Hall (Hg.), Crime Fiction in German. Der Krimi, (Cardiff: University of Wales Press, 2016), S. 115–31, hier S. 116.

11 Vgl. Václav Smyčka und Stefan Segi, ‘Geschichtsaufarbeitung im tschechischen und deutschen Krimi’, in Lena Dorn, Marek Nekula, Václav Smyčka (Hg.), Zwischen nationalen und transnationalen Erinnerungsräumen in Zentraleuropa, (Berlin: De Gruyter, 2020), S. 173–94, hier S. 179.

12 Christoph Rodiek, ‘Potentielle Historie (Uchronie). Literarische Darstellungsformen alternativer Geschichtsverläufe’, arcadia, 22 (1987), 39–54, hier S. 45.

13 Siehe Florian Grimm, Reise in die Vergangenheit — Reise in die Fantasie? Tendenzen des postmodernen Geschichtsroman (Frankfurt a.M.: Lang, 2007), S. 60.

14 Alida Bremer, Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999), S. 11.

15 Ebd., S. 7.

16 Metin Genç, ‘Einleitung’, in Metin Genç, Christof Hamann (Hg.), Kriminographien. Formenbeispiele und Medialität kriminalliterarischer Schreibweisen, (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2018), S. 7–20, hier S. 7.

17 Als Beispiele sind u.a. zu nennen: Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven (Berlin: De Gruyter 2005); Fabrizio Cambi (Hg.), Gedächtnis und Literatur. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008); Elisa Goudin-Steinmann und Carola Hähnel-Mesnard (Hg.), Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kulturelle Identität (Berlin: Frank & Timme, 2013).

18 Zur ‘Kondition’ des historischen Romans im deutschen Literaturbetrieb siehe Susanne Kleinert, ‘Geschichtsdarstellung im Roman — Ein Forschungsbericht über Studien zum Geschichtsroman der Gegenwart’, Grenzgänge, 6 (1996), 143–62; Ralph Kohpeiß, Der historische Roman der Gegenwart in der Bundesrepublik Deutschland. Ästhetische Konzeption und Wirkungsintention (Stuttgart: Springer, 1993), S. 13.

19 Barbara Korte, Sylvia Paletschek, ‘Geschichte in populären Medien und Genres: Vom historischen Roman zum Computerspiel’, in Barbara Korte, Sylvia (Hg.), History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, (Bielefeld: transcript, 2009), S. 9–60, hier S. 9.

20 Ansgar Nünning, ‘Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans’, in Daniel Fulda, Silvia Serena Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, (Berlin: De Gruyter, 2002), S. 541–69, hier S. 542.

21 Vgl. u.a. Jochen Schmidt, Gangster — Opfer — Detektive. Eine Typengeschichte des Kriminalromans (Frankfurt a.M.: Ullstein, 1989), S. 327.

22 Vgl. Raimund Borgmeier, ‘Historische Kriminalromane aus Sicht der Gegenwart: Josephine Tey’, in Vera Nünning (Hg.), Der amerikanische und britische Kriminalroman. Genres — Entwicklungen — Modellinterpretationen, (Trier: WVT, 2008), S. 75–89.

23 Vgl. Thomas Kniesche, Einführung in den Kriminalroman (Darmstadt: WBG, 2015), S. 94–99.

24 Alexandra Krieg, Auf Spurensuche. Der Kriminalroman und seine Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart (Marburg: Tectum, 2002), S. 8.

25 Franceschini und Würmann, ‘Verbrechen als Passion’, S. 7.

26 Wörtche, Das Mörderische neben dem Leben, S. 81.

27 Vogt, Schema und Variation, S. 327–28.

28 Vgl. Wolfgang Düsing (Hg.), Experimente mit dem Kriminalroman (Frankfurt a.M.: Lang, 1993).

29 Wörtche, Das Mörderische neben dem Leben, S. 8.

30 Jochen Vogt, ‘Erweiterte Erzählform und zeitgeschichtliche Perspektive: Robert Wilson’, in Nünning (Hg.), Der amerikanische und britische Kriminalroman, S. 225–39, hier S. 226.

31 Vera Nünning, ‘Britische und amerikanische Kriminalromane: Genrekonventionen und neuere Entwicklungstendenzen’, in Nünning (Hg.), Der amerikanische und britische Kriminalroman, S. 1–26, hier S. 2.

32 Ebd., S. 3.

33 Vgl. Wörtche, Das Mörderische neben dem Leben, S. 121.

34 Wojciech J. Burszta, ‘Kryminał: żywioł i forma (wstęp)’, in Tomasz Dalasiński, Tomasz Szymon Markiewka (Hg.), Kryminał. Gatunek poważ(a)ny? Bd. 1: Kryminał a medium (literatura — teatr — film — serial — komiks), (Toruń: ProLog, 2015), S. 11–15, hier S. 15 (‘źródło praktyk kulturowych’; Übers. — W.B.).

35 Siehe Edgar Marsch, Die Kriminalerzählung. Theorie — Geschichte — Analyse (München: Winkler, 1983), S. 23.

36 Saupe, Der Historiker als Detektiv, S. 334.

37 Paul G. Buchloh und Jens-Peter Becker, Der Detektivroman. Studien zur Geschichte und Form der englischen und amerikanischen Detektivliteratur (Darmstadt: WBG, 1978), S. 121.

38 Vgl. Ernest Mandel, Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans (Frankfurt a.M.: Athenäum, 1987), S. 144.

39 Luc Boltanski, Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft (Berlin: Suhrkamp, 2013), S. 62–4.

40 Michael Butter, ‘Zwischen Affirmation und Revision populärer Geschichtsbilder: Das Genre der “alternate history”’, in Korte, Paletschek (Hg.), History Goes Pop, S. 65–81, hier S. 68.

41 Siehe auch den Sammelband Bruce B. Campbell, Alison Guenther-Pal und Vibeke Rützou Petersen (Hg.), Detectives, Dystopias and Poplit. Studies in Modern German Genre Fiction (Rochester, NY: Camden House, 2014).

42 Hans Vilmar Geppert, Der historische Roman. Geschichte umerzählt — von Walter Scott bis zur Gegenwart (Tübingen: Francke, 2009), S. 178.

43 Umberto Eco, Nachschrift zum ‘Namen der Rose’ (München: dtv, 1987), S. 78.

44 Hans-Jürgen Rusch, Die Erben der Wende (Meßkirch: Gmeiner, 2017), S. 10.

45 Rusch, Die Erben der Wende.

46 Ebd., S. 303.

47 Rusch, Die Erben der Wende, S. 11.

48 Rusch, Die Erben der Wende, S. 22–23.

49 Ebd., S. 213.

50 Ebd., S. 315.

51 Vgl. Christian Joppke, East German Dissidents and the Revolution of 1989. Social Movement in a Leninist Regime (Houndmills: Macmillan Press, 1995), S. 171–72.

52 Hans-Jürgen Rusch, Gegenwende (Meßkirch: Gmeiner, 2010), S. 123.

53 Ebd., S. 124.

54 Rusch, Gegenwende, S. 350.

55 Mit Urbans Plan D beschäftigten sich 1) mit Blick auf das Science Fiction-Potential des Romans: Adam Sobek, ‘Das Paradigma der Parallelwelten anhand der sozialistischen Utopie “Plan D” (2011) von Simon Urban’, in Paweł Wałowski (Hg.), Der (neue) Mensch und seine Welten. Deutschsprachige fantastische Literatur und Science-Fiction, (Berlin: Frank & Timme, 2017), S. 101–13, und 2) mit Blick auf die Ostalgie-Debatte: Wolfgang Brylla, ‘Im Osten nichts Neues? Die DDR und der (alternative) Geschichtskrimi’,Constellazioni: Ostalgie, 3 (2017), 131–56.

56 Simon Urban, Plan D (München: btb, 2013), S. 39.

57 Urban, Plan D, S. 50.

58 Vgl. ebd., S. 65.

59 Ebd., S. 99.

60 Ebd., S. 92.

61 Urban, Plan D, S. 107–08.

62 Vgl. ebd., S. 155.

63 Ebd., S. 215.

64 Ebd., S. 243.

65 Urban, Plan D, S. 440.

66 Vgl. ebd., S. 311.

67 Ebd., S. 269.

68 Ebd., S. 544.

69 Ebd., S. 546.

70 Ebd., S. 329.

71 Brylla, ‘Im Osten nichts Neues?’, S. 152.

72 Urban, Plan D, S. 449.

73 Urban, Plan D, S. 462.

74 Ebd., S. 268.

75 Jochen Vogt, ‘Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (1990–2015). Nebst einigen Lektüreempfehlungen’, Germanica, 58 (2016), 13–39, hier S. 39. Aktualisierte Fassung u.d.T. ‘Regionalität und Modernisierung in der neuesten deutschsprachigen Kriminalliteratur (seit 1990). Nebst einigen Lektüreempfehlungen’ abgedruckt in Wolfgang Brylla, Maike Schmidt (Hg.), Der Regionalkrimi. Ausdifferenzierungen und Entwicklungstendenzen, (Göttingen: V&R unipress, 2022), S. 19–46.

76 Vgl. u.a. Kniesche, Einführung in den Kriminalroman, S. 100–103.

77 Brylla, ‘Im Osten nichts Neues?’, S. 152.

78 In Anlehnung an Nünnings Typologie des historischen Romans: Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans (Trier: WVT, 1995), S. 268–81.

Additional information

Notes on contributors

Wolfgang Brylla

Wolfgang Brylla, 2003–2008 Germanistikstudium in Zielona Góra und Gießen; promovierte zu Hans Fallada; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Zielona Góra; Preisträger der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN, 2013); Gastdozent an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder (2017); Forschungsschwerpunkte: Hans Fallada, Kriminalliteratur, Stadtliteratur

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